Stockholm (Wird in zwei Teilen gepostet)

  • Wann hatte es begonnen? Wann hatte es angefangen? Er hätte es nicht sagen können. Ab und an waren ihm leichte Veränderungen der Landschaft ins Auge gefallen, unmerkliche Unterschiede, die auch leicht am Wassermangel oder der ständigen verdammten Hitze hätten liegen können. Aber als er schließlich noch einmal all seine Aufmerksamkeit auf diese Landschaft richtete, in der er sich befand, war ihm klar, wie sehr sie sich wirklich verändert hatte. Und er sich mit ihr.
    Es war keine Veränderung, die sichtbar gewesen wäre. Endlos vor ihm erstreckten sich einheitliche, sandfarbene Hügel, unregelmäßig durch kleinere Erhebungen gerippt. Wann immer er die Kraft aufbringen konnte, auf einen dieser Hügel zu steigen, so erstreckte sich rings um ihn herum dieses endlose Panorama wie ein riesiges, unordentliches Tuch, das jemand unter einem in dunkeles Blau getauchten Himmel vergessen hatte. In endloser Ferne flimmerte die Luft und schien höhnisch zu tanzen, eine Leichtigkeit vortäuschend, die kein lebendes Wesen jemals in dieser Gegend erreichen konnte, sich aber ewig danach verzehrte. Die Leichtigkeit dessen, was keine Sorgen kennt. Die Leichtigkeit dessen, was frei ist. Die Leichtigkeit des Todes. Und doch, so abstrakt vielen eine derartige Landschaft vorgekommen wäre, er hatte sie schon seit Tagen durchwandert und nie war sie ihm ein Feind gewesen. Ein unnachgiebiger Rivale um das kostbare Leben mit Sicherheit, aber nie ein Feind. Denn wie jeden Gegner konnte man diese Landschaft studieren und lernen, in ihr auszukommen. Bei einem Feind war das etwas vollkommen anderes. Ein Feind wartete geduldig ab und zeigte keine Schwäche. Ein Gegner hatte noch einen gewissen Respekt vor einem und gab einem die Möglichkeit, zu gewinnen. Ein Feind tat dies nicht. Ja, diese Landschaft war sein Feind geworden und hatte dies so langsam und so allmählich getan, dass er nichts davon gemerkt hatte. Bis jetzt.


    Die Luft war warm und jeder Atemzug brannte tief in seiner Kehle. Dennoch trank er so viel von der heißen, abgestandenen Luft wie möglich, denn sie war das einzige, was ihm noch nicht feindlich gesinnt war. Er musste sich nur überwinden, um sie in sich aufzunehmen, sie sträubte sich nicht dagegen. Noch nicht. Und alleine dafür schon war er dieser fremden Landschaft in gewisser Weise dankbar. Das sie ihn atmen ließ. Wenigstens das noch. Aber wer wusste schon, für die lange. Jetzt, wo sich alles gegen ihn gewendet hatte, traute er seinem Schicksal so gut wie alles zu. Vielleicht wurde hier auch nur mit ihm gespielt und er war schon längst verdammt, würde nur noch einige Tage oder Stunden um sein Überleben kämpfen... Mit einem energischen Kopfschütteln vertrieb er diese Gedanken. Er würde einen Weg finden. Und allein schon, dass ihn diese Landschaft, sein Feind, immer noch Atmen ließ, machte ihm Hoffnung. Genug Hoffnung, um weiterzumachen.


    Er hätte unmöglich sagen können,wie lange er nicht geschlafen hatte. Hin und wieder war er in einen leichten Halbschlaf hinübergeglitten, aber war immer wieder aufgeschreckt. Mal war es, weil er jetzt noch nicht nachgeben wollte, mal weil er glaubte etwas gehört zu haben, mal wusste er selbst nicht so genau, was ihn aufgeschreckt hatte. Fast schien es so, als sträubte sich alles in und um ihn herum dagegen, ihn schlafen zu lassen. Eigentlich war es nur logisch, dass dem so war, denn obwohl diese Landschaft, sein Feind, ihn Atmen ließ, so wusste er doch nicht, was sie mit ihm anstellen würde, wenn er schlief. Nicht, dass man dieses ungesunde Einnicken, dem er sich immer öfter hingab, Schlaf nennen konnte. Oder das es eine Zeit gab, in der er hätte Schlafen können. Er wusste zwar, dass seinem Zeitgefühl schon lange keine Bedeutung mehr zunahm, aber er war sich sicher, dass die Nacht zumindest einmal schon hätte hereinbrechen sollen. Aber davon war nichts zu sehen, nichts zu spüren. Es blieb unverändert heiß und unverändert hell. Kein wirklicher Tag mehr und keine wirkliche Nacht. Nur dieser ewig gleiche, niemals wechselnde Himmel. Ohne Sonne, ohne Wolken, ohne Hoffnung. Und vor ihm das eintönige sandfarbene Tuch, welches in keine Richtung ein Ende nahm. Irritiert kniff er die Augen zusammen. Es mocht sein, dass seine Sinne ihm einen Streich spielten oder eine Luftspiegelung seinen Kampf mit dieser Gegend versüßte. Aber warum in solch einer Gestalt? Ein wenig misstrauisch rieb er sich die Augen. Schüttelte den Kopf. Sah noch einmal hin. Nein, was er dort sah war echt, keine Zwiefel. Inmitten dieses endlosen Meers aus erstarrtem Sand stand ein Bett.


    Erst als er vor ihm stand, glaubte er, was er da sah. Es war tatsächlich ein Bett, das hier in der Wüste stand. Kein sehr schönes Bett, eigentlich sah es aus, als würde es gleich auseinanderfallen. Der Sand kombiniert mit dem heulenden, gnadenlosen Wind der hier herrschte, hatte das Holz, aus dem der Rahmen bestand, überall abgeschmirgelt und auch vor der wohl eigentlich weißen Bettwäsche nicht halt gemacht, sondern sie zu braunen, unförmigen Stofffetzen zerschmirgelt. Aber dennoch: Das Bett stand und war als solches zu erkennen, da würde es wohl seinen Zweck erfüllen. Oder nicht? Unentschlossen stand er vor diesem unerwarteten Zeichen, vielleicht wieder ein Geschenk der Landschaft. Eine Einladung, sich jetzt doch schlafen zu legen. Offensichtlich hatte er diese riesige, anonyme Landschaft doch falsch eingeschätzt. Wenn sie ihm so etwas sendete, dann konnten ihre Absichten doch keine schlechten sein. Mit diesem abstrakten Gedanken im Hinterkopf schlief er ein.


    Später, wenn er zurückdachte, konnte er sich nur schemenhaft an seinen Traum erinnern. Er hatte Stimmen gehört, hastige Stimmen, die über irgendetwas zu verhandeln schienen. Hatte Schemen gesehen, die eilig hin und her gehuscht waren, ohne feste Form, fast als wäre es ihnen unheimlich oder zuwider, eine solche anzunehmen. Und all diese Eindrücke, die Stimmen wie die Schemen, hatten sich mit ihm beschäftigt. Es gab auch einen konkreteren Grund dazu, der ihm im Traum vielleicht bewusst gewesen war, aber kaum das er aufgewacht war, hatte er diesen vergessen. Und so stand er aus dem morschen, zerschlissenen Bett auf mit der Verwirrung, wie sie jeder Träumer kurz nach dem Aufwachen empfindet. Und einem unangenehmen, brennenden Gefühl in der Kehle: Durst. Er musste etwas trinken. Und nicht erst bald sondern jetzt, sofort. Oder die Landschaft hatte doch gewonnen.. vielleicht war das ihre Absicht gewesen. Ihm noch ein wenig Schlaf zu gönnen, bevor sie ihn entgültig hier verdursten ließ.. die Hitze kroch seine Beine, seinen Oberkörper empor und setzte sich in seiner Kehle fest, welche sie unbarmherzig ausdörrte. Selbst sein Speichel war mittlerweile trocken, klebte ihm am Gaumen und war unmöglich herunterzuschlucken. Eine Qual, wie er sie noch niemals erlebt hatte. Durst. Ein so simpeles, kurzes Wort für eine so lange, ja schier endlose Qual, die er gerade erlitt.


    Wieso wusste er selbst nicht, aber er hatte sich gezwungen, weiterzugehen. Vielleicht war es der Trotz, der ihm immer noch in den Knochen saß und der ihn dazu brachte so lange weiterzuwandern, wie er konnte. Vielleicht war es die Hoffnung, irgendwo etwas zu trinken zu finden, auch wenn es vollkommen unwahrscheinlich war, ja eigentlich unmöglich. Rings um ihn herum war nur Sand, hier Wasser zu finden, egal in welcher Form, war unwahrscheinlicher als plötzlich außerhalb dieser Hölle zu stehen. Dann wiederrum hatte ihm ja diese Landschaft schon ein Bett geschickt, oder? Das war doch noch unwahrscheinlicher, sagte er sich. Ja, das war es und trotzdem hatte er es gefunden. Aber verringerte das seine Chancen auf Wasser nicht nur noch? Wenn er schon einmal solches Glück hatte, konnte er es dann nicht unmöglich noch ein zweites Mal haben? Falls es überhaupt Glück war und keine Abhängigkeit von dieser.. Landschaft. Was auch immer sie war. Ob sie einen eigenen Willen hatte, oder ob er sich in seinem Hitzekoller nur in irgendeinen Wahn hineinsteigerte. Aber einen Vorteil hatte es, diesen Gedanken nachzugehen: So vergaß er, wenn auch nur für wenige Minuten, seinen Durst. Ein wunderbares, magisches Gefühl, auch wenn er sich bemühte, nicht allzu sehr darauf zu achten. Denn dann würde, das wusste er, der Durst wiederkommen. Und das vermutlich schlimmer und quälender als zuvor.


    Das leise, unbeständige Fauchen des Windes war in seinen Ohren zu einem hintergründigen Störgeräusch geworden. So sehr nahmen ihn seine eigenen Gedanken in Beschlag, seine Gedanken, die ihn von seiner Situation ablenkten, seinem Dilemma, seiner Auswegslosigkeit, seinem Durst. Immer wieder registrierte er ein leises Wimmern, wenn der Wind sich ihm besonders stark näherte, aber mehr ließ er nicht zu. Auch sah er sich um, ohne dabei wirklich seine Umwelt wahrzunehmen. Denn sobald er das wieder tat, das wusste er, würde der Durst zurückkommen. Vielleicht ganz schlicht, vielleicht gekoppelt mit der Gewissheit, dass er hier verdursten würde, austrocknen würde, irgendwann einfach niederfallen musste, um zu einem skelettierten und dann unter dem beständig wandernen Sand begrabenen Denkmal seiner selbst zu werden. Eine Trophäe für diese Landschaft, die sie an sich nehmen und nie wieder ausspucken würde.


    Beinahe war er über seine eigenen Gedanken schon so weit gekommen, die Arme auszubreiten und sich einfach in den Sand zu werfen. Sich aus freien Stücken seinem Tode hingeben, solange er noch die Macht hatte, anstatt tumb und unter Qualen gegen ein Schicksal anzutreten, das unvermeidlich war. Zwar war der Tod immer unausweichlich, das Schicksal von allem, was lebte, aber in seinem Falle war der Tod durch Verdursten oder freiwilligen Wahn nur noch wenige Stunden entfernt, vielleicht Minuten. Warum sich nicht einfach hinlegen, dachte er, und das Unvermeidliche einfach erwarten anstatt sich sinnlos abzustrampeln? Ja, beinahe wäre er so weit gekommen. Aber das es nicht dazu kam, verdankte er wohl nur sich selber, dass er es so lange geschafft hatte, durchzuhalten. Es fing als leises, nahezu unhörbares Geräusch an. So subtil war es und so fein, dass er anfangs gedacht hatte, nur einen weiteren Streich seiner geschwächten Wahrnehmung im Ohr zu haben. Doch langsam war das Geräusch stärker geworden, hatten an Kraft wie auch an Bedeutung gewonnen. Es war ein simpeles, ein einfaches Geräusch, andere Menschen, Menschen unter normalen Umständen, hätten es vielleicht sogar als störend empfunden, aber für ihn war es schöner, intensiver und beglückender als jede Form von Musik: Es war das Plätschern von Wasser.


    Tatsächlich war nicht weit von ihm entfernt eine Wasserquelle. Und nicht nur das, wie um ihn noch weiter zu verwirren, war es ein Springbrunnen aus weißem Marmor, durch bröckelnde, aber nach wie vor intakte Steinwände vor dem unbarmherzigen Wind und Sand der Wüste geschützt. Vor Freude wäre er beinahe weinend auf die Knie gegangen, wie im stillen Gebet zu einem Gott, den es nicht gab, zu seinem eigenen Feind, aber sein Durst war stärker, zwang ihn zu trinken, minutenlang, ohne Unterbrechung. Selbst die Wand hatte diese Landschaft nicht zur Gänze daran hindern können, das eigentlich klare und erfrischende Wasser mit Sand zu verunreinigen. Immer wieder spürte er kleine, harte Sandkörner in seinem Mund, am Zahnfleisch, aber es war ihm egal. Wenn er auch nur eine Sekunde innehielt, würde er einen grausamen Tod sterben. Eben jenen Tod, dem er sich so lange entzogen hatte und der ihn jetzt, wo ihm klar wurde, wie knapp er ihm entronnen war, umso erbitterter jagte. Und es gab nur einen Fluchtweg: Trinken. Trinken soviel wie möglich. Mochten seine Knie auch Zittern und sein Kopf sich bereits schwammig anfühlen von zuviel Wasser auf einmal. Die Hälfte würde er wieder erbrechen müssen, wenn er aufhörte, aber das war jetzt egal. Klares, kühles Wasser floss erfrischend seine Kehle hinab und erfüllte ihn mit einer tiefen Glückseligkeit. Er war dankbar. Und in diesem Moment fing er an, die Landschaft, welche ihn gefangenhielt, zu akzeptieren. Er akzeptierte sie nicht mehr als Feind oder als Gegner, wie er es zuvor getan hatte, sondern als ein seltsamer, schweigsamer, aber in Zeiten der Not dennoch verlässlicher Freund.


    Als er schließlich absetzte zu trinken, übergab er sich. Ein großer Teil des Wassers, welches er so gierig in sich aufgenommen hatte, verließ seinen Körper auf unappetitlichste Weise und verwandelte den Sand zu seinen Füßen in bräunlichen Schlamm. Und trotzdem fühlte er sich glücklich, ja er hätte beinahe gelacht. Mit einem Mal schien diese ganze Gegend ihre Bedrohlichkeit verloren zu haben. Vielleicht würde er hungern, dursten, ein Obdach suchen, aber all dies würde ihm hier früher oder später gewährt werden, da war er sicher. Zwar wusste er nicht, wieso, aber irgendwie schien es ihm fast, als würde auch die Landschaft ihn benötigen.. als sei er wichtig für sie. Und was ihn anfangs noch eher irritiert und angewidert hatte, das schien ihm nun selbstverständlich, ja fast schon.. erfreulich. So sehr konnte man sich also wandeln.


    Schlaf, Wasser, Essen. Jetzt wo er sicher war, diese Dinge im Notfall zu bekommen, schienen sie fast an Bedeutung verloren zu haben. Sein Kopf schien in der Hitze eine völlig neue Leichtigkeit gewonnen zu haben, jetzt wo er in Sicherheit schwelgte. Normalerweise hätte er das als Unachtsamkeit abgetan, wäre auf der Hut geblieben, aber diesmal war es.. anders. Es war richtig. Das fühlte er in jeder Pore seines Körpers. Misstrauen oder gar Zweifel wären ihm vorgekommen wie der Frevel an einem sehr, sehr guten Freund. Freund, ja. Immer mehr, je öfter er das Wort gebrauchte, umso weniger ungewohnt schmeckte es in seinem Mund. Diese Landschaft war sein Freund. Noch etwas weniger ungewohnt. Ein seltsamer, merkwürdiger Freund, der ihn scheinbar gerne quälte, aber ihm die nötigsten Dinge im Leben (auf Wanderschaft? Er bewegte sich beständig fort, oder etwa nicht?) doch zuspielte, wenn er sie am dringensten benötigte. Diese Sicherheit gab ihm Rückhalt.


    Ob Tage, Wochen, Monate vergangen waren, das wusste er nicht. Möglich, dass er mittlerweile keinen Schlaf, kein Wasser und keine Nahrung mehr brauchte, dass all diese Faktoren ihm nun durch seinen Begleiter, diese Landschaft, vollkommen ersetzt wurden. Immer wieder sah er, wenn er einen der sandigen Hügel erklommen hatte, nur wieder endlose Wellen aus einem zu Sand erstarrten Meer, die sich bis ins Endlose zu erstrecken schienen. Doch anstatt ihn wie früher mit Frustration zu erfüllen, weckte dieses Bild nun eine gewisse Hoffnung in ihm. Einen gewissen Vorgeschmack auf Freiheit. Er konnte endlos so weiterwandern, ohne innezuhalten, ohne zu zögern und ohne jemals zurückzublicken. Die Hitze, welche ihm eins mörderisch heiß erschienen war, lag wie eine milde Sommerbrise auf seiner von Sand verkrusteten Haut und seine Augen, einst trübe, von Hoffnungslosigkeit vernebelte Teiche, hatten sich gelichtet und zeigten den eifrigen Glanz der Freude, wie zwei Sterne, die sich auf endlos tiefen Pfützen spiegelten. Und noch mehr als pure Freude, nämlich Verzückung, spiegelte sich ihn ihnen als sie das Pharaonengrab erblickten.


    Zuerst war es nur ein weiterer Hügel gewesen, der sich in weiter Ferne erhoben hatte, vielleicht aus etwas kompakterem Sand. Dann aber hatten sich die Köpfe von Statuen gezeigt. Zwei prächtige, überlebensgroße Männer, die die klassischen Kopftücher und die Reichsinsignien der Pharaonen führten, Krummstab und Geißel in jeweils einer Hand, die Arme überkreuz dagestellt. So standen die beiden Statuen da, vor einem einst reichverzierten, doch nun zur Hälfte eingebrochenen Tor, das sich in den anliegenden Sandfels bohrte, wie eine endlos tiefe, schwarze Wunde.


    Voller Verzückung war er auf dieses Tor zugehastet, ein weiteres Geschenk seines Freundes. Aus der Nähe sahen die Statuen der Pharaonen noch beeindruckender aus, wie sie ihre Augen seit Jahrtausenden auf dieselbe Stelle richteten, das Grab ihrer Meister bewachend. War es wirklich ein Grab? Zu Füßen der Statuen waren Schriftzeichen eingraviert, aber er konnte sie nicht lesen. Was sie wohl bedeuten mochten? Nun, es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Und er war sich sicher, dass sein Freund es so wollte. Sonst hätte er ihn wohl kaum an diesen Ort geführt. Nein, nicht nur ein ordinärer Ort war das hier, wo er jetzt stand. Es war.. ein Teil seines Freundes. Womöglich ein geheimer, sehr intimer Bereich, zu dem er nur jemanden führte, dem er vertraute. So nahe sah sein Freund ihn also schon bei sich. Das ehrte ihn. Mit einer kurzen, ehrlich gemeinten Verbeugung bedankte er sich vor den endlos weiten Sanddünen, der Sonne, dem stahlend blauen Himmel und dem heißen Wind. Dann ging er los, hinein in die kühle, ungewisse Dunkelheit.


    Nicht lange irrte er in der Dunkelheit umher. Schon nach der ersten Wegbiegung, die er sich mit spitzen Fingern entlanggetastet hatte, sah er in einige Entfernung das prasselnde, flackernde Licht einer frisch entzündeten Fackel. So gab es also doch noch Zivilisation hier! Die Fackel konnte doch schwerlich seit tausenden von Jahren brennen, seitdem diese Ruine menschlicher Ambitionen verlassen war. Irgendjemand musste diese Fackel also vor kurzem entzündet haben, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht waren hier noch andere Leute, Menschen wie er? Die in dieser Landschaft, welche ihn nun zur Gänze umschloss und kühlte, einen Freund gefunden hatten, der sie alle hier versammelte? Ein wunderschöner Gedanke, fand er bei sich, zusammen mit anderen reden zu können, vielleicht sogar lernen konnte, seinen merkwürdigen, undurchsichtigen Freund zu verstehen. Innerlich dankbar nahm er die Fackel aus ihrer Halterung, ein leises Rasseln war dabei zu hören, und ging noch tiefer hinein in die Eingeweide der Ruine, seines Freundes, des Berges.


    Stunden mochten vergangen sein, Tage, Jahre, er wusste es nicht. Wieder einmal erinnerte er sich, wie irrelevant der Faktor Zeit für ihn mittlerweile geworden war. Immer wieder glitt sein Blick die dunkelbraune, brüchige Wand entlang, an der unentzifferbare Zeichen im unbeständigen Licht der Fackel tanzten. Kilometerlang mochte es so schon gehen, ohne eine einzige Unterbrechung. Und doch war die Luft hier nicht stickig geworden, die Flamme seiner Fackel brannte beständig und auch er fühlte sich nicht, als ob der Sauerstoff in diesem Gang zur Neige gehen würde. Aber das hätte sein Freund sowieso nicht zugelassen. Nein, ganz bestimmt nicht!

  • Wieder eine unbestimmte Zeiteinheit später stand er mit einem Mal in
    einem hohen Raum. Obsidianschwarz erhoben sich die Wände in einigen
    Schritten Entfernung, auch hier wieder mit mysteriösen Zeichen bedeckt,
    die er nicht lesen konnte. An verschiedenen Stellen, eine Logik
    dahinter war nicht zu erkennen, standen Sakrophage, die er mit seiner
    laienhaften Kenntnis der alten ägyptischen Grabkultur als die letzten
    Ruhestätten von Pharaonen oder zumindest äußerst wichtigen Personen
    einordnen konnte. Ziemlich genau in der Mitte des Raumes stand eine Art
    Altar, der von vier kniehohen Steinpfeilern eingekreist war, die
    beinahe wie Stühle an einem Tisch wirkten. Und auf einem dieser
    Steinpfeiler saß tatsächlich jemand.


    Die Haut des Mannes war
    braungebrannt, als habe er lange Zeit draußen verbracht. Seine Kleidung
    wirkte ein wenig angegriffen vom Sand und vom Wind und seine rechte
    Wange war beinahe vollständig deformiert, als hätte er sich dort einmal
    vor langer Zeit eine Verbrennung zugezogen. Seine Augen waren von
    tiefbrauner Farbe und schienen immer wieder verschiedene Dinge in
    seiner Umgebung mit einer ungesunden Starre und Faszination zu
    fixieren. Und dann trafen die Blicke dieses Fremden ihn, den Wanderer,
    der von seinem Freund hierhergesandt worden war. Seinem unsichtbaren
    und doch stets überall präsenten Freund.


    Eine ganze Weile lang
    schwiegen sie sich einfach nur an. Ein tiefes, gehaltvolles Schweigen,
    dessen vollkommene Ruhe soviele Wörter mit einschloss. Dann fing der
    Fremde an, zu sprechen: „Wie fühlen sie sich?“ Eine merkwürdige, eine
    unangebrachte Frage. Wie sollte er sich schon fühlen? „Es geht mir gut,
    danke“, erwiderte er schließlich, nachdem er eine Weile überlegt hatte,
    „Auch wenn ich mir nicht so wirklich bewusst bin, was das alles soll.“.
    „Sie sind ein Gefangener“, erklärte der fremde Mann ihm, „Aber keine
    Sorge, Sie sind in Sicherheit. Der Staat tut alles in seiner Macht
    stehende, um Gegenmaßnahmen einzuleiten. Bald schon werden Sie wieder
    frei sein“. Das war falsch, fand er, er war frei. Umgeben von Freunden,
    von einem Freund, der ihm nirgendswo verbot hinzugehen, solange sie
    zusammenblieben. Und von ihm trennen wollte er sich auch nicht
    wirklich, dafür hatte er zuviel mit ihm durchgemacht. Doch der Fremde
    sprach weiter: „Ich weiß, Sie können sich schwer vorstellen, diese
    Umgebung aus eigener Kraft zu verlassen. Daher hat die Regierung
    bereits veranlasst, sie zu zerstören. Bald werden einige Flugzeuge hier
    eintreffen, eines davon wird Sie mitnehmen.. und die restlichen werden
    die Landschaft währenddessen vollständig zerstören. Niemand wird mehr
    von dieser Landschaft gefangengenommen werden, das garantiert die
    Regierung.“ Und er konnte nicht widersprechen. Mit einem „Danke, ich
    muss jetzt los“, das seine Ohren nur widerwillig zu erreichen schien,
    stand der Mann auf, öffnete einen der zahllosen Sakropharge und ließ
    ihn, zusammen mit seinem dem Tode geweihten Freund allein.