Bericht Nr. 27 (Keine Fanfiction, einfach mal etwas zum Nachdenken)

  • Als ich aufwachte, war der Krieg bereits erklärt. Keine Zeit war gegeben, sich vorzubereiten oder Gebete zu sprechen, irgendetwas zu tun. Mit einem Mal hatte sich ein Nebel auf die Straßen gelegt, ein Nebel aus Lärm, aus Pulverdampf, aus Blut, aus Schreien, aus Verzweiflung. Gewebt wie ein dünner, feiner Teppich hatte sich diese Kriegswolke über alles gelegt und jeden Menschen, jedes Haus, jeden Stein in ein potenziell grausames und widerwärtiges Tier verwandelt, das nur noch den Krieg kannte. Das hoffnungslose Seufzen der Sterbenden, das alles verfluchende Stöhnen der Verletzten, dies waren die einzigen Geräusche, die es noch schafften, durch das ewige Rattern von Maschinengewehren und Panzern zu dringen, die unaufhörlich die Welt fraßen. Ein Wuchtschlag war der Krieg schon immer gewesen, aber noch niemals so intensiv, so mächtig, so gnadenlos wie hier.


    Als ich aufwachte, wusste ich davon nichts. Ich merkte nur, dass meine Kamera weg war. Sie war ein Geschenk meines Vaters gewesen bevor er in den Krieg zog und ich hing sehr an ihr. Sie lag immer neben mir auf meinem Nachttisch, zusammen mit dem ersten Foto, das sie je geschossen hatte. Mein Vater in Brigadeuniform. Ich hatte mich gefreut wie der kleine Junge, der ich damals gewesen war und umso kostbarer wurde die Kamera mir, als mein Vater in dem damaligen Krieg fiel. Sinnlos fiel. Ein paar Zentimeter für ein paar Tage nur, mehr hatte er nicht bewegen können. Zwei Zentimeter leerer Raum für ein Leben, das ganze Kontinente ausfüllte. Seit diesem Tag hütete ich meine Kamera wie einen Schatz. Das war wohl auch der Grund, warum ich Journalist geworden bin. Anders hätte ich mich mit meiner Obsession für diese Kamera überhaupt nicht durchschlagen können. Zudem war ich ziemlich gut in diesem Beruf. Ich war keiner dieser Starjournalisten und wäre es wohl auch niemals geworden, selbst wenn ich mich angestrengt hätte. Ich verdiente mein Brot mit etwas, das ich gut konnte, noch dazu berührte ich Menschen damit. Und Vaters Kamera war mir immer nahe. Darum war ich Journalist geworden.


    Als ich aufwachte, fühlte ich mich zunächst verwirrt. Wo war meine Kamera, fragte ich mich? Dann erst merkte ich es. Wo waren meine Kleider? Meine Schuhe, meine Socken? Wo war meine Frau? Normalerweise stand sie immer kurz nach mir auf und ein kurzer Blick auf den Wecker verriet mir, dass es kurz nach sieben war, meine übliche Aufstehzeit. Es war ihr doch hoffentlich nichts passiert? Aber warum hätte sie mich dann nicht geweckt? Vielleicht war sie nur auf der Toilette, versuchte ich mich zu beruhigen, ja so musste es sein. Frauen hatten doch manchmal eine sehr schwache Blase, scherzte ich mit mir selber, beruhigte ich mich selbst, das wird es sein, ja, so muss es sein. Aber irgendwie wusste ich, das dem nicht so war. Meine Frau war weg. Sie war geflohen und hatte nur an ihr nacktes Überleben gedacht, nicht an mich, nicht an ihre Sachen. Nur an sich.


    Als ich aufwachte, hörte ich zunächst garnichts. Zu sehr nahm mich das Fehlen meiner Kamera, der Verlust meiner Frau, von dem ich noch garnicht wusste, das es ein Verlust war, mit. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts von dem Krieg. Dann aber hörte ich es. Und mit diesem Geräusch begann der Krieg für mich.
    Es war ein schrilles, hohes Pfeifen, wie die Jungs es manchmal auf den Fingern erzeugen, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber da war noch etwas anderes.. etwas Bedrohliches lag in diesem Pfeifen. Dann erst kam der Knall. Er kam überraschend und gewann dadurch ungeheuer an Lautstärke und Intensität. Ein einziger, großer Ruck ging durch die Welt, begleitet nur von Ruß- und Aschewolken. Dann erst kam der Knall. Ruckartig flog er durch meinen Körper und zerfetzte mir fast das Trommelfell. Lange noch hallte er als dünner Pfeifton in meinem Ohr nach und mit diesem Pfeifton verband ich damals untrennbar den Krieg. Doch seltsam: Gerade dieser Krach, der mich fast taub machte, ließ mich die Geräusche hören, die nur der Krieg erzeugt. Hastiges Fußgetrappel, verzweifelte Stimmen, Gewehrsalven, zackig gebrüllte Befehle. All diese Geräusche kannte ich als Kriegsberichtserstatter zur Genüge, unmöglich, dass sie mir vorher entgangen waren. Soweit ich weiß, setzten dann auch die Sorgen um meine Frau ein. Hastig warf ich mir einen Bademantel über und rannte los. So wenig Zeit, dachte ich damals nur. So wenig Zeit.


    Als ich aufwachte, lag kein Geruch in der Luft. Nun aber, da ich das Treppenhaus hinunterhastete, nahm ich Unmengen davon wahr. Pulverqualm, Blut, Angstschweiß, aufgewühlte Erde. Auch diese Gerüche kannte ich und ich wusste nur zu gut, was sie bedeuteten. Ich musste weiter. Weg. Egal. Irgendwohin. Hastig kam zu mir das Echo meiner Schritte, wie ich durch den komplett leeren Treppenflur stürzte. Hastig schlug ich die Türen auf und befand mich mitten im Kriegslärm. Die Stelle, an der die Bombe eingeschlagen war, deren Detonation mir fast die Besinnung geraubt hatte, war nur noch ein großer, von gnädigem Qualm eingehüllter Trümmerhaufen. Wer wusste schon, wieviele Menschen darunter begraben waren. Womöglich hunderte. Womöglich keiner. Wer wusste das schon? Ich nicht und ich würde es auch nicht herausfinden. Nur rennen. Rennen und mich selber retten. Diese Zielsetzung hatte jetzt oberste Priorität. Ich rannte und rannte, immer schneller, nicht darauf achtend, wer Freund und wer Feind war. Ich hätte es eh nicht gewusst. Wusste ich doch garnichts über diesen Krieg.


    Als ich aufwachte, war kein Krieg angekündigt gewesen. Die politische Lage war zwar angespannt wie immer, aber nach einem Krieg sah es nirgends aus. Selbst die überzeugtesten Pessimisten wagten es allerhöchstens, eine wirtschaftliche Flaute zu prognostizieren, aber das Wort Krieg nahm niemand in den Mund. Vielleicht war er gerade deswegen gekommen. Über uns hereingebrochen, wenn wir uns am wenigsten wehren konnten. Wir. Die wir doch eh keine Waffen führen konnten, wehrlos waren, schutzlos im Angesicht dieser Welt des Militärs. So das jetzt jeder entwaffnet war, jeder einzelne aus der Allianz der Wehrlosen. Und alleine durch die Geschichte rannte, stolperte. Wie ich.


    Als ich aufwachte, wusste ich nicht, was passieren würde. Wusste es nie, die ganze Zeit nicht, als ich durch die aufgewühlten Straßen stolperte. Vorbei an Häuserwracks und Autoruinen, die mich aus kalten toten Scheinwerferaugen ansahen und mit rostigen Türangelfingern nach mir geiferten. Dann ein Rattern. Schneller, schneller als meine Schritte, als mein Atem, als mein Herzschlag, schneller als alles, was mein Leben erhalten konnte.
    Dann riss mich plötzlich jemand von den Füßen. Diese Aktion kam so plötzlich, so unvorbereitet, so überraschend, dass ich nicht einmal mehr die Arme vor das Gesicht halten konnte. So fiel ich geradewegs in die tote, kranke Erde, die der Krieg bereits zerwühlt hatte. Über mir schlugen Kugeln ein die, das war sicher, mich mühelos durchbohrt hätten. Irgendjemand hatte mich an den Knöcheln gefasst und mir so das Leben gerettet. Ich blickte an mir herunter, um diesen unbekannten Wohltäter sehen zu können. Es war ein Soldat. Mühselig, ächzend richtete er sich auf und klopfte sich notdürftig die Erde aus der Kleidung. Sein Gesicht war verdreckt, verschmiert und von einem stählernen Helm eingerahmt. Kantige Formen stachen heraus und ich erkannte, dass er zwei verschiedenfarbige Augen hatte. Das eine grün, das andere braun. „Verdammte Tiefflieger hier“, grummelte er mit der vielleicht tiefsten Stimme, die ich jemals gehört hatte. Mir fiel auf, das um uns herum noch andere Gestalten waren, ich sie aber nicht erkennen konnte. Undeutliche, graue Schemen ohne Namen, ohne Schicksal, ohne Ziel. „Ich würd Ihnen raten, sich ins Zentrum der Stadt durchzuschlagen, da gibt es ein Flüchtlingslager. Sie sehen nicht so aus, als könnten Sie kämpfen. Das überlassen Sie mal uns.“ Er klopfte mir auf die Schulter, es hatte etwas joviales an sich. Ich konnte nicht anders, als ein wenig gerührt zu sein. Selbst in dieser Situation war man also nicht vollkommen allein.


    Als ich aufwachte, war ich ratlos darüber, was sein mochte. Also fragte ich den Soldaten, der mir immerhin schon mein Leben gerettet hatte. Vielleicht konnte er mir auch helfen, es mit Klarheit zu füllen. „Sagen Sie,“ fragte ich, „Was ist mit den Menschen passiert? Die in diesen Häusern leben, meine ich?“ „Abgehauen!“ Der Soldat spuckte aus. „Feige Memmen sind das, allesamt. Würde ich zwar gerne sagen, aber wenn man keine Waffe hat, so wie unsereins, dann fällt das Kämpfen wohl schwerer.“ Ich nickte leicht. Ihm beizupflichten hielt ich damals für das Beste. „Und was würden Sie mir jetzt raten zu tun?“, hakte ich nach. „Nun, wie gesagt, Sie sollten sich zur Mitte der Stadt durchschlagen. Die ist da hinten.“ Er deutete mit seinem fleischigen Finger in eine mehr oder wenige unbestimmte Richtung. „Da soll es sicher sein. Glaube ich jedenfalls. Keine Ahnung“ Seine zwei verschiedenfarbigen Augen sahen mich mit erschreckender Ungewissheit an. „Dann nur noch eine Frage“, wagte ich, aus mir herauszubringen. „Na gut, wenns sein muss... Aber nur eine.“
    Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. „Wieso das ganze? Ich meine, warum ist jetzt auf einmal Krieg? Um welche Ressourcen wird gekämpft? Welcher Konflikt wird hier ausgetragen? Und gegen wen? Bitte, sagen Sie es mir!“ Ich war verzweifelt. All diese Fragen, von mir selbst bereits trotz der kurzen Zeit dieses Krieges schon tausende Male an mich selbst gerichtet. Mein Lebensretter sah mich lange an. „Warum?“, sagte er schließlich, seine Stimme klang noch tiefer als zuvor. „Das weiß ich nicht.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand im Kriegsnebel.


    Als ich aufwachte, war ich allein. Das hat sich nicht geändert.

  • So dann will ich das mal kommentieren tun.


    Erstmal, was zur Form:


    Der Schreibstil ist sehr intensiv, spätestens ab dem zweiten Absatz habe ich mich in die Situation hineinversetzen können und konnte mir das Geschehen gut vorstellen. Durch die eingeschränkte Perspektive (Keine Ahnung wie ich das Ausdrücken soll, ich meine das bewusst bestimmte Dinge also z.B. Beschreibung der Umgebung, der Handlung, usw. weggelassen werden) und die Sprunghafte Erzählweise durch die einzelnen Abschnitte wird das ganze spannend. Allerdings war ich von dieser Sprunghaftigkeit auch irritiert und habe überlegt, ob nicht eventuell verschiedene Personen berichten. In den letzten Absätzen war das nicht mehr so, da diese sich teilweise direkt aufeinander beziehen.


    Jetz was zum Inhalt:


    Die Botschaft, die ich da jetzt rausgefiltert habe ist in etwa "Für Krieg gibt es keinen Grund" und "Im Krieg ist jeder Mensch allein" bzw. "Jeder ist sich der nächste" (?)
    War es beabsichtigt, dass es so rüberkommt, dass er sich später keine Sorgen mehr um seine Frau macht ?


    Ich glaub ich sollte die Geschichte nochmal lesen ^^



    lg

    Einmal editiert, zuletzt von Lerrachim ()

  • Das mit der sprunghaften Erzählweise ist generell eine Marotte von mir. Es fällt mir manchmal beim Lesen auch selber auf, obwohl die Wahl der Perspektive ja von mir selbst stammt. Aber gerade in solchen Geschichten unterstützt sie die Atmosphäre wohl noch.


    Die Sorgen um seine Frau habe ich später mehr oder weniger absichtlich ausgeblendet, da der mit dem "Knall" ja wirklich im Krieg ankommt und somit erkennt, dass jetzt erst einmal sein eigenes Überleben wichtig ist. Als jemand, der sich mit solchen Dingen auskennt ist ihm klar, dass er seiner Frau unter diesen Umständen eh nicht helfen kann und verwendet demnach auch keine Gedanken mehr an sie. Kein sehr gutes Eheleben, das die beiden führen, würde ich meinen. *grins*


    Was die Interpretation angeht, will ich dir keine Vorschriften machen. Ich erhebe keinen Anspruch, dass man meine Geschichten überhaupt interpretieren kann. ;) Ich verfolge natürlich eine gewisse Intention beim Schreiben, aber zu 100% kann wohl nur ich selbst diese nachvollziehen. Wenn aber jemand etwas vollkommen anderes aus meiner Geschichte interpretiert als ich selber, dann ist das ebenfalls gültig und ich bin der letzte, der einem da widerspricht.