Die Decke des Schweigens

  • Die Schneeflocken die beständig den Weg der Anziehungskraft verfolgten, legten eine seltsame, schweigende Decke auf die Menschen. Ich hatte es oft beobachtet, Jahr für Jahr. Wann immer die ersten glitzernden Sterne das Leben der Mutter Erde unter sich begruben, wurde die Welt still und die Kraft der Schwächeren sich mitteilen zu wollen verschwand gänzlich. Genau wie alles andere blühende Leben hier. Alles wehte davon oder ließ sich begraben, bis letztlich nur noch eine Geisterstadt übrig blieb.
    Ich war wohl eines dieser schwachen Lebewesen. Sobald die Bäume das tote Laub von sich schüttelten und der eisige Wind seine erfrierende Nachricht mit sich trug, wurde ich schier lautlos und sparsam mit meinen Worten. Ich schloss mein Inneres immerzu ein und hoffte diese lieblose Zeit unbeschadet zu überstehen. Die Zeit in der sich alles eiskalt verwandelte und nicht einmal die Wärme eines Freundes Trost spenden konnte. Der Winter war für mich immer ein Abschnitt des Sterbens. Eine lasche, trostlose Zeit mit der ich mich einfach nicht anfreunden konnte. Meine Freunde waren davon überzeugt, dass ich mit Sicherheit an Depressionen litt und mich dringend einer Lichttherapie unterziehen sollte. Ja, das war ihre logische Erklärung für mein unterkühltes, wortkarges Verhalten. Und sie hatten wahrhaft für alles ihre Erklärung. Doch was wussten sie schon? Meine Version dazu sah etwas anders aus. Und sie hatte einen durchweg bitteren Nachgeschmack. Vielleicht lag es tatsächlich daran das mein Vater an einem kalten Wintertag einfach nicht mehr nach Hause kam und ich innerlich den Countdown vom verschwinden bis hin zur erschütternden Todesnachricht zählte. Jedes Jahr. Vom Fallen der ersten Schneeflocke, bis hin zu der Sekunde in der ich nicht mehr Kind sein durfte.


    Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Ich griff zum läutenden Telefon und überschlug mich vor Freude als Papa mit seiner warmen freundlichen Stimme erzählte dass er schon morgen, an heilig Abend zu Hause wäre und das Weihnachtsfest mit uns verbringen würde. Ich war so überglücklich und schwor jede Minute zu zählen, bis er endlich bei uns zu Hause wäre. „Sechs Stunden“ hatte er gesagt. „In sechs Stunden bin ich zuhause. Und dann wartet eine kleine Überraschung auf dich mein Herz“. Ja. Mein Herz. So hatte er mich immer genannt wenn er lange weg war um den Lebensunterhalt für uns zu verdienen. Und es waren wertvolle Sekunden in denen ich wusste wie sehr mich mein Vater liebte. Ich ahnte ja nicht, dass ich sie zum letzten Mal hören sollte. Denn in jener trostlosen Nacht in der uns der Himmel zu verschütteten drohte, zog sich das warten in die Unendlichkeit und die Minuten die ich zählte wurden zu einer bitteren Qual. Ich weiß noch, dass ich wie fixiert am Fenster saß und die abertausend Schneeflocken beobachtete, die nach und nach das Haus einkesselten, als wäre es eine Festung die man fest einschließen musste um sie vor Gefahren zu beschützen. Die dichte weiße Decke wuchs bis zu den Fensterscheiben hinauf und es wurde absolut unmöglich das Haus zu verlassen. Doch die weißen Sterne stürzten trotzdem weiter herunter, ohne Rücksicht, ohne Schuld. Mir war fast so als würde der Himmel jemanden beweinen und die vereisten Tränen waren Zeugnis dafür. Sie stießen in Scharen herab als wollten sie einen Massenselbstmord veranstalten. Ich hatte die ganze Nacht mit warten verbracht. Die ganze verdammte Nacht. Am folgenden Morgen war ich wohl doch noch eingeschlafen, denn mein Schrei erfüllte das ganze Haus als ich schlafestrunken die Tür öffnete und eine Sturzflut an Schnee herein polterte. Mama und ich waren zu tode verängstigt, doch niemand von uns beiden verschwendete einen Gedanken daran wie es Papa nun ging. Ich glaube, wir waren derart davon überzeugt das er in Sicherheit war, dass für uns der Gedanke gar nicht in Frage kam das er womöglich in höchster Lebensgefahr schwebte. So verging der heilige Abend ohne ein Lebenszeichen, ohne das wir nach Hilfe rufen konnten und ohne das man in dieser Einöde nach uns suchte. Der Kontakt zur Außenwelt war gänzlich abgerissen. Das ganze Weihnachtsfest saßen wir fest. Eine ganze geschlagene Woche wurde unser Leben vom Schneetreiben begraben. Und danach?...


    „Hey Alessa?“
    Das quirlige Schreien des aufgeweckten Jungen stieß mich aus meinen Erinnerungen zurück.
    „Was fällt dir ein mich so zu erschrecken du Flegel?!“ plusterte ich mich auf und zerwuschelte dem Schwarzschopf seine Haare. „Du musst schon ein bisschen einfühlsamer sein Dusty.“
    „Du sollst mich nicht immer Dusty nennen!“ keifte der Schönling zurück „ich bin doch nicht dein Köter, also nenn mich gefälligst beim Namen!“
    „Ach, halt die Klappe.“ Gab ich beschwichtigend zurück als ich ihn am Schal packte und an mich zog. „Tu lieber was sinnvolles und küss mich.“ Verträumt blickte ich in seine Augen als sich unsere Lippen näherten und nach einem Treffen flehten. In seinen Umarmungen konnte ich in Liebe ertrinken. Mit seinen Küssen schmeckte ich die süße Essenz dieses intensiven Gefühls. Er war mein sanfter, starker Krieger. Und er war mein Licht wenn um mich herum die Dunkelheit ausgebrochen war. Mein ein und alles. Vorsichtig drückte er seinen Körper an den meinen und bewies mir eindringlich wie sehr er mich liebte. Für immer hätte ich so da stehen können, hätte mein Körper nicht nach einem befreienden Seufzer verlangt. Nach Luft ringend löste ich den Kuss und zupfte verspielt an seiner Jacke. Ich ahnte es schon, sein Blick verriet ihn und noch bevor er seinen Mund öffnete wusste ich das er gleich zu einer Frage ansetzten würde.
    „Sag mal Alessa“ sang er fröhlich los „morgen ist doch Samstag. Hast du nicht Lust mit mir ins Kino zu gehen?“ Wie konnte ich diesen warmherzigen Augen eine Bitte ausschlagen. Zur Bestätigung lächelte ich ihn an und verlor mich erneut in einem liebevollen Kuss. Die Zeit in der wir umschlungen unter freiem Himmel standen, schien nur für uns beide geschaffen zu sein. Wir verbrachten ohnehin viel zu wenig miteinander, also kostete ich jede Sekunde mit ihm voll und ganz aus. Die Sonne verschwand in einem letzten Aufblitzen hinter dem Horizont und die knorrigen, grünlosen Bäume wurden zum letzten Mahnmal für die anbrechende Nacht.
    „Lass uns nach Hause gehen Sully“ flüsterte ich meinem Liebsten ins Ohr und umklammerte fordernd seinen Arm.
    „Hey“ brach es überrascht aus ihm heraus „sieh mal einer an, du kannst ja meinen Namen aussprechen.“ Unter breitem Grinsen entblößte er seine weißen Zähne und schenkte mir dieses unwiderstehliche Lächeln „na wenn das so ist, dann werde ich dich nach Hause begleiten.“ Vorsichtig nahm er mich bei der Hand und entführte sie zu sich in seine Jackentasche. Wortlos schlenderte mit mir durch die leblosen Gassen. Er war ein hoffnungsloser Romantiker, aber genau wegen dieser Art liebte ich ihn so sehr. Meinen heißgeliebten Träumer. Er brachte mich genau bis vor die Haustüre und wartete ab bis ich sicher hinter ihr angekommen war. Ab hier trennten sich unsere Wege und ich blickte ihm lange wehmütig vom Fenster meines Zimmers aus hinterher. Ich lehnte mich weit hinaus und verfolgte den schwarzen Punkt der nach und nach mit der wachsenden Dunkelheit verschmolz, bis ich mir sicher war ihn nicht mehr sehen zu können. Die ersten Sterne blitzten am Firmament auf und der eisige Geruch von Kälte lag in der Luft. Es würde nicht mehr lange dauern. Bald schon würde ich wieder die Gefangene meiner Erinnerung sein und manisch die Minuten zählen. Zitternd. Wankend. Innerlich zerstört. Bis hin zu jener Sekunde an dem der markerschütternde Schrei meiner Mutter die Stille der Einöde zerriss. Der Film würde schon bald von vorne beginnen.


    Die Wochen waren schleichend vergangen und wie befürchtet prallte der erste Schneestern direkt auf meine Stirn, vereiste mein Herz und ich fühlte mich als säße ich in einem Kühlschrank, viel zu erfroren um mich zu bewegen, doch viel zu warm um trotzdem zu sterben. Zwischen Zusammenbrechen und Ohnmacht zählte ich immer wieder die Minuten, erinnerte mich an die Stunden die meinen Geist zäh umwoben und war geknebelt von dem Schrei der immer wieder hartnäckig in meinem Geist aufflammte und mir den Ernst der Lage bewusst machte. Der Schrei meiner Vergangenheit. Ein Ruf der mich immer wieder pünktlich, auf die Sekunde genau ereilte und meine kleine, heile Welt in Scherben legte. Warum hatte eigentlich nur Mama damals geschrieen? Warum quälte sich nicht auch aus meinem kleinen Körper wenigstens ein verlorenes Wimmern heraus, als ich ihn da so liegen sah, das kleine Geschenkchen fest umklammernd? Warum nur konnte mein Geist einfach nicht aufhören zu glauben, er würde eines Tages doch noch vor der Türe stehen, wo gerade dieser Gedanke die Absurdität auslachte. Und wieso glaubte ich noch immer er würde sich danach sehnen mich zu umarmen? Mein Papa? Mein Papa! Wo war die Zeit nur geblieben?

  • Zitat

    Original von ElfenliedsLucy
    Der Winter war für mich immer ein Abschnitt des Sterbens.


    Ist er für viele Pflanzen und Tiere wirklich.


    Zitat

    Original von ElfenliedsLucy
    Mir war fast so als würde der Himmel jemanden beweinen und die vereisten Tränen waren Zeugnis dafür.


    Manchmal habe ich auch das Gefühl, der Himmel würde jemanden beweinen.


    Bitte poste den weiteren Verlauf der Geschichte.

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  • Jep, das denke ich mir eben auch. Und genau genommen mag ich diesen Sterbeprozess auch nicht. Ich mag ihn einfach nicht.


    Ich glaube das denken viele ._.


    urks xD da hat wohl jemand gemerkt das ich nicht alles gepostet habe xP ok ^^, dann post ich mal den Rest xD und danke fürs Kommentieren Sis ^^ hat mich unheimlich gefreut +knuffs<3
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    „Papa… Papa komm zurück. Dein Herz kann doch ohne dich nicht Leben.“ Immer wieder flüsterte ich diese Worte in den vergangenen Monaten. In Monaten in der die weiße Decke alles zumauerte und unter sich verschüttete. Immer und immer wieder schickte ich Stoßgebete zum Himmel hinauf, betete zum Schicksal die Zeit zurück zu drehen und jaulte wie ein verwundeter Wolf der von seinem Rudel im Stich gelassen wurde. Doch Tränen waren mir fremd. Hatte ich eigentlich auch nur ein einziges Mal geweint, seit Papa weg war? Hatte ich je eine Träne für ihn vergossen? Hatte ich das? Jede Nacht saß ich am Fenster und starrte in das kalte Nichts hinaus, bis mich die Bewusstlosigkeit für wenige Stunden zum Schlafen zwang. Warum konnte mir eigentlich niemand dieses Gefühl entreißen? Dieses Gefühl etwas vergessen zu haben? Warum nur musste ich jedes Jahr alles von vorne durchleben? War ich tatsächlich so schwach, dass ich den Tot meines Vaters einfach nicht verkraften konnte? War ich wirklich so erbärmlich? Ich wünschte mir so sehr, das ich all das endlich loslassen könnte, denn auch Sully quälte dieses ungewisse Schweigen das ich Tag für Tag mit mir herum trug. Er war nicht dumm. Und er spürte dass ich eine Last mit mir trug. Er hasste die Stille die meine Lippen versiegelte. Und langsam – so glaubte ich jedenfalls – dachte er wohl ernsthaft darüber nach ob mir wirklich etwas an ihm liegt. Ich war so dumm, so unendlich dumm. Warum vertraute ich ihm denn nicht? Warum öffnete ich nicht einfach den Mund und quälte die Erinnerungen aus mir heraus? Es war nicht fair das er wegen mir leiden musste, nicht fair das er nicht verstand warum ich ihn abblockte. Hätte ich doch nur früher den Mund aufgemacht. Hätte ich es nur getan…



    Ich war so elend erleichtert als die blendende, weiße Decke endlich löchrig und porös wurde. Die kalten Monate kündigten ihren Rückzug an. Endlich, nach einer langen Zeit stiller Leiden. Der Schnee siechte allmählich in der wärmenden Frühlingssonne dahin und langsam wagte ich es, wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen und mich der großen weiten Welt zu stellen. Die schlafenden Geister waren wieder erwacht und das Leben begann von vorne zu wandeln, also tat ich es ihm gleich und versuchte wieder die fröhliche, aufgeweckte Alessa zu sein die Sully so gerne sah.
    „Hey“ ohne Vorwarnung zwickte ich dem störrischen, bockenden Esel neben mir in die Seite „nun schau doch nicht so böse. Ich dachte wir wollten einen schönen Tag miteinander verbringen.“ Ich setzte eine fragende Miene auf und stellte mich ihm in den Weg. Doch irgendwie wich er mir aus. Er war anders als sonst. Hatte ich ihn vielleicht nun doch zu lange leiden lassen? Oder war ich nun doch endgültig paranoid?
    „Heeey!“ quasselte ich munter weiter „Hallohoooo? Jemand zu Hause?“ Wieder wich er mir aus und wehrte die Hand ab die ich ihm prüfend auf die Stirn legen wollte. Langsam überkam mich das unsichere Gefühl das etwas nicht stimmte und meine Stimme wurde augenblicklich belegt als mir das bewusst wurde. „Sully“ flüsterte ich, kaum laut genug um es selbst zu hören. „Bitte sprich doch mit mir… Sully“. Ein fragwürdiges Grinsen schlich sich auf sein Gesicht und ich glaubte einen Ausdruck von Triumph in seinen Augen vorherrschen zu sehen.
    „Hab ich dich erwischt!“ zischte er los und schoss in schlängelnden Bewegungen auf meinen Hals los. „Jetzt hast du endlich mal eine Ladung deines eigenen Giftes zu spüren bekommen.“ Ich zwang mich zu husten um die Tränen zu verjagen die bereits gefährlich nah an meine Augen reichten. Was war Sully nur für ein Dummkopf.
    „Idiot“ raunte ich unterschwellig und stapfte einfach davon „Glaubst du ich hab das mit Absicht gemacht? Ich kann den Winter nun mal nicht leiden.“
    Ich konnte seine Schritte hören, er holte schnell auf und wandelte nun im gleichen Schritt mit mir zwischen den Menschen hindurch.
    „Ist das denn ein Grund mich einfach zu ignorieren? Ist das ein Grund meine Anrufe abzulehnen, Treffen auszuschlagen und mich zu meiden als wäre ich die Pest? Ich bin doch nicht der Winter….“
    Ich konnte ihn doch verstehen. Verdammt! Warum fiel es mir denn nur so unheimlich schwer ihm zu erzählen was los war?
    „Es tut mir leid Sully“ flüsterte ich „Ich würde dir… so gerne erzählen… erzählen was den Winter für mich so abscheulich macht. Aber bitte versteh das nicht falsch. Es hängt nicht mit dir zusammen. Es liegt nicht an dir. Bitte verzeih mir.“
    Wehmütig klettete ich mich an seinen Arm und starrte aus ernsten Augen in sein Gesicht.
    Tröstend streichelte er mir über den Kopf.
    „Du kleiner Dummkopf.“ Da war sie wieder, seine liebevolle, zärtliche Art. Erst küsste er mich auf die Stirn um sich langsam zu meinen Lippen vorzuarbeiten. Süß wie Honig. „Irgendwann, wenn du dich bereit fühlst, wirst du mir erzählen was passiert ist. Aber bis dahin wirst du mich gefälligst nie wieder abblitzen lassen.“ Er sprach diese Worte in einer herzlichen Wärme aus, so dass ich ihm einfach nicht widersprechen konnte. Hätte ich auch nein sagen wollen, es wäre mir nicht gelungen. In seinen Armen war ich zuhause und er war die Hälfte nach der ich mein Leben lang gesucht hatte.
    „So“ er griff meinen Arm und entführte mich einfach in eine x-beliebige Richtung in der Stadt „Und jetzt werden wir uns endlich einen schönen Tag machen. Dafür sind wir ja hier.“ Wie sehr ich sein Lächeln doch liebte, seine aufgeschlossene, warme Art. Mir war gar nicht aufgefallen wie sehr er mir fehlte in den letzten Monaten. Doch jetzt war er endlich hier um mit mir ein lang ersehntes Stückchen Zeit zu verbringen. Und es sollte der schönste Tag in diesem Jahr werden. Das dachte ich jedenfalls. Aber irgendetwas schien in der Luft zu liegen. Ich konnte mir nicht erklären was es war, man konnte es weder riechen noch schmecken, aber die ersten Anzeichen zeigten sich, als Sully ohne Vorwarnung vor meinen Augen in sich zusammen sackte und ich bestürzt über ihm hing, seine Wangen tätschelnd um ihn wach zu rütteln.
    „Sully wach doch auf verdammt!“ ich verstand die Welt nicht mehr. In einem Augenblick lächelte er mich an und im nächsten lief er weiß an und sank zu Boden.
    „Wach AUF!“ Panisch schrie ich durch die Gegend, flehte um Hilfe, doch keiner der Großstädter machte Anstalten auch nur wenigstens ein Handy in die Hand zu nehmen. Sie standen alle nur dumm in der Gegend herum und gafften sich die Augen aus dem Kopf. Nach weiteren, erwiderungslosen Versuchen ihn wachzurütteln, raffte ich mich auf ihm etwas kräftiger ins Gesicht zu schlagen und endlich, er schien wieder zu sich zu kommen. Wirr flatterte sein Kopf in alle Richtungen, doch er schien nicht fähig irgendetwas fest mit seinem Blick zu fixieren. Es schien, als schwimme er in irgendeiner Zeit, weit weg, nur nicht hier.
    „Sully!“ besorgt redete ich auf ihn ein „Sully, sieh mich an! Sieh mich bitte endlich an!“
    Was passierte hier eigentlich? Was war mit meinem Liebsten los? Und warum hatte ich den Eindruck dass die Temperatur in der Luft gerade in Richtung Eis wanderte. Warum fühlte sich alles plötzlich alles so bitter kalt an? Ein Teil in mir sträubte sich. Sträubte sich gegen die Angst und gegen das Gefühl schon wieder etwas Wichtiges übersehen zu haben. So wie damals. Nach Minuten der Orientierungslosigkeit gelang es Sully schließlich sich aufzuraffen und sich auf mich zu stützen. Eigentlich wollte ich ihn sofort in das nächste Krankenhaus bringen, aber er weigerte sich standhaft.
    „Es geht schon wieder“ stammelte er benommen. Doch die Blässe wich nicht aus seinem Gesicht. Obwohl ich ihn mehrmals geschlagen hatte um ihn wieder wach zu kriegen, da war nichts weiter als kühle Blässe in seinem Gesicht. So hatte ich ihn noch nie gesehn.
    „Bist du sicher? Nun komm schon. Lass mich dich wenigstens nach Hause bringen.“
    „NEIN!“ Er drückte sich ungewöhnlich deutlich aus. „lass uns endlich weiter gehen. Ich hab mir den Tag extra für dich reserviert, jetzt will ich ihn auch mit dir verbringen.“
    Er ließ sich einfach nicht besänftigen. Es beunruhigte mich wie sehr er versuchte zu überspielen das es ihm schlecht ging. Ich konnte es doch sehn. Jede Faser seines Körpers schrie, doch er gab einfach nicht nach. An der nächsten Kreuzung geschah dann das unmögliche. Ich hatte nur einen Augenblick lang nicht aufgepasst, war für eine Sekunde auf mein läutendes Handy in der Jackentasche fixiert und Sully lief stur über die rote Ampel. Ein entsetzliches, kreischendes Quietschen grollte unter den Autos hervor die eine Notbremsung hinlegten, doch die Katastrophe kannte kein halten mehr. Meine große Liebe wurde frontal erwischt und mehrere Meter durch die Luft geschleudert. Dieser Anblick war so grausam, so nervenzerreißend grausam. Die Welt schien mir plötzlich in Watte gepackt und ein dumpfes Pfeifen betäubte meine Ohren. Ich war nicht einmal mehr fähig zu laufen. Ich stand einfach nur hier und der Moment vom Aufprall bis hin zum Flug den Sully hinlegte, spielte sich vor und zurück, lief wie in kaputtes Videoband vor meinen Augen ab. Und ich fand die Stop-Taste einfach nicht. Erst als mich ein dunkler Sog auf die Knie zwang und mich gänzlich in sich verschluckte, spürte ich endlich nichts mehr. Da war nur noch diese warme, erfüllende Stimme in mir. Und es schien, ja es schien tatsächlich so, als wollte sie mit mir sprechen.
    Denn sie hauchte meinen Namen. Immer wieder. Erst flüsternd, dann lauter. Und irgendwie hatte ich das Gefühl diese Stimme schon von Anbeginn der Zeit zu kennen. Und sie sprach aus, was ich niemals über die Lippen brachte. Sie gab frei, was ich niemals aus mir entweichen ließ. Die Angst. Die Trauer. Und die Schuld….

  • Alessa… ich kenne sie jetzt… deine Geschichte. Ich kenne sie. Und ich weiß wie sehr du gelitten hast. Weißt du noch, der Abend an dem du deinen Vater so freudig erwartet hast? Weißt du noch wie du die kleinen Sterne vom Fenster aus fixiert hast, die vom Himmel stürzten. Du dachtest, der Himmel würde weinen, nicht wahr? Du hattest Recht.
    Was erzählte mir diese Stimme da eigentlich gerade? Ich wollte Schreien, doch irgendwie war da nichts, keine Stimme, kein Körper, gar nichts. Also ergab ich mich in stillem zuhören.
    Der Himmel war so schrecklich traurig weil er wusste dass seine Zeit abgelaufen ist. Ja, dein Vater wurde nach Hause gerufen. Er sollte seinen Platz früher wieder einnehmen als geplant. Es war ihm nicht vergönnt bei seinem Herzen zu bleiben. Erinnerst du dich noch? Du dachtest, du hättest im Schneesturm eine Stimme gehört, doch irgendetwas ließ dich glauben, da wäre nichts. Eine fremde Kraft gaukelte dir vor das deine Ohren sich täuschten. Aber er hatte dich wirklich gerufen Alessa. Er hatte die Hand bereits nach dir ausgestreckt und deinen Namen gerufen, immer wieder. Doch der Sturm verschluckte seine Worte. Er sagte: „Mein Herz, öffne die Tür, ich bin zuhause. Bitte öffne doch die Tür.“ Aber seine Kraft schwand dahin.
    Das war es also. Das hatte ich all die Jahre verdrängt. Ich hatte ihn rufen gehört, aber ich hielte es für das Heulen des Windes. Deswegen erlaubte ich mir nie zu weinen und genau deswegen musste ich Jahr für Jahr immer wieder alles von neuem erleben, wenn auch nicht real.
    Es ist nicht deine Schuld Alessa. Die alten Weisen haben entschieden. Es hätte nichts gegeben was sie daran gehindert hätte ihn zu holen. Es ist nicht deine Schuld, hörst du mich? Es ist nicht deine Schuld Alessa…
    Der Klang der Stimme verebbte in einem traurigen Rauschen.



    Als ich aufwachte, lag ich in einem sterilweißen, kahlem Zimmer. Ich wusste nicht wie lange die Welt um mich herum aufgehört hatte zu existieren, aber ich wusste das etwas schreckliches geschehen war. Mein Herz brannte als ich meinen Geist in Bewegung setzte und die letzten Erinnerungen an den Unfall wieder auferstehen ließ. Es brannte, als wolle es mir aus der Brust heraus fallen und zum ersten Mal in meinem verdammten Leben kämpfte ich einen erbitterten Kampf gegen die Tränen die sich aus mir heraus schälten. Als ich den Blick zum Fenster wandte, stürzten sich wieder diese grauenvollen Todesboten in der nächtlichen Schwärze den Himmel hinab. Ja, der Himmel weinte schon wieder. Und dieses Mal hatte auch ich keine Kraft mehr die Tränen in mir zu verschlucken die sich mit aller Macht aus mir hervor kämpften. Ich ahnte es. Ich hatte sie noch immer leise im Kopf, diese friedliche, glänzende Stimme. Ich hatte sie schon erkannt, als sie das erste mal leise in meinem Kopf anklopfte. Ein leises Wimmern rutschte aus meiner Kehle und wurde mehr und mehr zu einem verweinten Schreien. Ich öffnete das Fenster des Krankenhauszimmers und sog die brechend kalte Luft tief in meine Lungen.
    „Komm zurück Sullyyyyyyyyyyy!“ Der Wiederhall meines verzweifelten Schreiens hing wie ein unheilvoller Kometenschweif über der Stadt. Um den Kreis der Leiden zu durchbrechen, musste ich das wichtigste in meinem Leben verlieren. Man sagte mir, das meine große Liebe an einer schweren Krankheit litt, der Unfall habe ihm letztlich nur einen langen Leidensweg erspart. Dennoch änderte es nichts an der Tatsache, das es seine Stimme war die ich hörte, kurz bevor ich die Augen öffnete und gemeinsam mit dem Himmel um seinen schmerzlichen Verlust klagte. Nie wieder würde mein Leben das sein was es war. Nicht ohne ihn. Und umso tragischer war es, das erst mein Herz sterben musste, damit ich den ewigen Kreislauf des Wintersterbens durchbrechen konnte…

  • Gern geschehen, Sis. *re* <3


    Zitat

    Original von ElfenliedsLucy
    Es schien, als schwimme er in irgendeiner Zeit, weit weg, nur nicht hier.


    Zuerst dachte ich, es wäre der Ausdruck für seinen Zustand. Nach dem Lesen der Geschichte frage ich mich nun aber, ob er wirklich ein Mensch ist.


    Zitat

    Original von ElfenliedsLucy
    Eigentlich wollte ich ihn sofort in das nächste Krankenhaus bringen, aber er weigerte sich standhaft.


    Ist das nicht unterlassene Hilfeleistung?


    Zitat

    Original von ElfenliedsLucy
    Das war es also. Das hatte ich all die Jahre verdrängt. Ich hatte ihn rufen gehört, aber ich hielte es für das Heulen des Windes. Deswegen erlaubte ich mir nie zu weinen und genau deswegen musste ich Jahr für Jahr immer wieder alles von neuem erleben, wenn auch nicht real.


    Das ist schrecklich.


    Zitat

    Original von ElfenliedsLucy
    Dennoch änderte es nichts an der Tatsache, das es seine Stimme war die ich hörte, kurz bevor ich die Augen öffnete und gemeinsam mit dem Himmel um seinen schmerzlichen Verlust klagte.


    Woher wusste er davon? War er deshalb so ihr, weil er wusste, was passiert war, sie es ihm aber nicht sagte? Und wie konnte er zu ihr sprechen? Oder hat sie sich das vielleicht nur eingebildet, um ein Stück des Schuldgefühls zu nehmen?

    Einmal editiert, zuletzt von Cat ()

  • Ähm, jup o.o er IST ein Mensch. Ein Mensch wie jeder andere auch ^^


    Keine Ahnung o.o glaube nicht. Wenn er das verweigert?


    Ich versuchs mal für dich zu entschlüsseln. Sully hatte diesen Unfall durch den er mehrere Meter durch die Luft geschleudert wurde. Er ist bei dem Aufprall sofort gestorben. Alessa hat das aber nicht mitbekommen weil sie von dem geschehen derart paralysiert war, das sie ohnmächtig wurde.
    Eines ist noch wichtig um das ganze zu verstehn. Man sagt das man mit beenden des Lebens ein gewisses Wissen bekommt (in manchen Kulutren wird das jedenfalls so vermittelt), dementsprechend hat Sully nach seinem Tot erfahren was Alessa durchleben musste. Sieh ihn als eine Art Schutzengel oder dergleichen. Er wollte seinem Mädchen im Endeffekt diese Schuld von den Schultern nehmen, deswegen hat er sie aufgeklärt was wirklich passiert ist. Im Geiste ;)

  • Viele verweigern Hilfe. Aber vielleicht hat sie nicht gewusst, wie schlimm sein Zustand war. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie die Situation anders eingeschätzt. Und wenn sie ihn ins Krankenhaus gebracht hätte, dann wäre der Unfall vielleicht nicht passiert.


    Jetzt verstehe ich es. Er hat sie sehr geliebt.